'Literaturpost' und 'Literaturlabor' in Hamburg

Frederike Freis Gründung der 'Literaturpost' - in der Lindenallee 40 in Hamburg-Eimsbüttel, einem ehemaligen Schaumstoffladen, entstand im Sommer 1980 das 'Literaturpostamt', das einen bundesweiten Versand von privater Lyrik und Prosa unter Schreibenden organisierte - inklusive Briefwechsel und in einem heute unglaublichen Umfang und Ausmaß als handkopierte papierene Vervielfältigung, interaktiv und Jahrzehnte vor Facebook.
1985 erfolgte die Umbenennung in 'Literaturlabor'.

Nähere Informationen folgen noch.

Literaturpost

Sigrid Weigel und Klaus Briegleb in: Gegenwartsliteratur seit 1968 in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur (dtv 1992)

Die Schreibbewegung ist von 1976 an ein Flickwerk aus vielen unterschiedlichen Gruppen und Institutionen. An den ersten Treffen schreibender Frauen nahm auch Frederike Frei teil, die weit über die Frauengruppen hinaus zur vitalsten Akteurin der Schreibbewegung wurde. Schon 1976 war sie auf der Frankfurter Buchmesse und der documenta 7 aufgefallen, weil sie ihre Gedichte in einem Bauchladen mit sich trug und auf Bestellung als LeseZeichen abschrieb; als ihr eigener Vertrieb suchte sie direkten Kontakt zum Lesepublikum. Sie plädierte 1978 in der COURAGE für "Literatur als Kommunikation". Die Vorstellung von Literatur als Post, ein Motiv schon der frühen Underground-Literatur, nahm Frei beim Wort und gründete mit zwei anderen Frauen 1980 in Hamburg das "Literaturpostamt". Hier treffen sich Schreibgruppen, es gibt Lesungen von "Alltagsschreibern", Texte werden gesammelt, nach Themen in große Briefumschläge sortiert und an Interessenten verschickt, die dann direkt den einzelnen Autoren, deren Adressen ihren Texten beigefügt sind, antworten und ihre eigenen Gedichte und Geschichten schicken können. Außerdem gibt es in der Literaturpost Schreibsprechstunden, ein "Volks"-Lektorat, Textschaukästen in U-Bahnhöfen und Leserlesungen und -gruppen.

Gegenwartsliteratur

Literaturpost

Der Spiegel 36/1980, 1. September 1980

"Poesie im Briefumschlag": Seit die Hamburger Lyrikerin Frederike Frei, 35, mit ihren Gedichten aus dem Bauchladen (...) bei der Frankfurter Buchmesse 1977 auf gönnerhafte Anerkennung stieß, läßt sie der Gedanke an den massenhaften Vertrieb poetischer Erzeugnisse nicht mehr los. Jetzt gründete sie ein 'Literaturpostamt', Lindenallee 40, 2000 Hamburg 19. Dort kann jedermann seine Texte aus 'Nacht- und Tagebüchern' loswerden. Postmeisterin Frei bündelt die vervielfältigten Werke nach Themen ('Ende einer Liebe', 'Tagebuch einer Vierzehnjährigen') und vertreibt sie weiter. Adressen genug hat sie: Ihre Eigenwerke pflegt die Künstlerin (...) im Tür-zu-Tür-Verkauf unter die Leute zu bringen.

[auch komplett unter spiegel.de zu lesen]

Der Spiegel 36/1980

Fritz Michael in Westfälische Allgemeine Zeitung

Frederike Frei ist ein Geheimtip, sagen Eingeweihte. Sie ist ein Ärgernis, meinen jene, die das Dichten für göttliches Tun halten. (...) Frederike Frei, die ihre Lyrik veröffentlicht hat, weiß, daß viele Menschen Schubladengedichte machen. 'Innenleben muß ins Außenleben, damit wir wissen, wie wir sind.' Sie sagt: "Diese Riesenliteratur - vom innerlichen Tagebuchgedicht über Briefe bis zum lange gehüteten Geheimnis einer neuen Relativitätstheorie des Bewußtseins - fällt unter den Tisch in die Schublade. Zweierlei Ängste stehen der Veröffentlichung entgegen: die vor den Kunstkriterien und die vor der Preisgabe des Innenlebens ... Das unbeholfene Gedicht eines Angestellten im Zusammenhang mit dem Wissen um sein Problem, den Job beim Kapital zu kündigen, kann mir ebensoviel helfen wie ein Gedicht von Celan. Ich will weder geladene Autorin sein, noch zum Schweigen verurteiltes Publikum. Der Mensch nimmt nur auf, wenn er auch abgibt, mit denkt, mitredet."

Der Westen

Hedwig Rohde in Tagesspiegel vom 27. Juni 1978

Mit Ausnahme von allenfalls einem Fünftel der lesenden Autoren (vorwiegend Frauen, an der Spitze Frederike Frei) traten besonders die deutschen Lyriker mit Versen auf, die ganz bestimmt ein literaturfremdes Publikum eher abgeschreckt hätten (...) Frederike Frei ("Habt doch Mut zur Angst!") allein gibt noch nicht auf. Sie fordert zur anschließenden Rundum-Lesung auf. "In dieser Zeit ist Literatur als Kunst tot. Wichtig ist Literatur als Mittel zur Kommunikation, Literatur als Post."

Tagesspiegel

Gerhard Kromschröder in PARDON 1977

"Gestern hat man doch gesehen, daß die Leute aus ihrer Passivität rauswollen", sagt Frederike Frei. Ja, es ist wirklich verblüffend, erinner ich mich, wie diese als konventionelle Lesung geplante Veranstaltung in Bad Soden ('Herz, Kreislauf, Frauen') auf einmal umgeschlagen war. Da plötzlich waren aus dem Publikum Gedichte aufgetaucht - zum Tod von Jean Améry, zur Kristallnacht, zu ganz persönlichen Problemen. Was für mich an diesem Abend noch verblüffender gewesen war: Leute, die sich nur von der Straße oder aus dem Supermarkt kennen, hatten da plötzlich angesetzt, ihre eingeübte, kleinstädtische Vorsicht fahren zu lassen und miteinander, angeregt über das Vehikel Gedicht, über erstaunlich persönliche Dinge zu reden. Frederike Frei: "Wenn die Leute nur einander sagen würden, was sie im Innersten bewegt: das wäre ja schon die Revolution."

Pardon

St. in Göppinger Nachrichten

Gegen Ende der Friedenswoche kam noch einmal Literatur zu Wort - freilich anders, als man es oft erlebt. Die Hamburger "Alltagsschreiberin" Frederike Frei war von der Liedermacher AG eingeladen, um ihre Erfindung "Rundumlesung" in die Wege zu leiten. Etwas, das sich umschreiben ließe mit Ermutigung, Selbstreflexion, Offenheit. Bei Rundumlesungen ist das Publikum aktiv. Jeder kann Autor sein, muß etwas mitbringen und vorlesen. Aber es geht nicht nur darum. (...) Der zweite Schritt ist, sich zu fragen, was man mit einem Text machen kann. Ihn für die Schublade schreiben - nein. Ihn an den Ort bringen, wo er hingehört - ja. So haben Frederike Frei und ihre Freunde vom "Literaturpostamt" Gedichte in Bahnhöfen verteilt (Thema: Abschied), Taxifahrern vorgelesen (Thema: Großstadt-Beziehungen), in Krankenhäusern gelesen (Thema: die trostlosen weißen Wände der Krankenzimmer). Der Text über Lärm muß ans Bushäuschen, an Bauzäune, das Gedicht eines Arztes in sein Wartezimmer. Dazu werden alle Formen "zwischen Papierkorb und Verlag" ausgenützt. Gedichte auf Flugblättern, Plakatwänden, als Briefe, als laut vorgetragener Text auf einer Demo. Vermieden werden soll die Situation der "Dichterlesung". Vorn, einsam, ganz Autorität - der Dichter, hinten klatschend und sprachlos - das Publikum. Wie da anfangs zögernd, verlegen Gedichte aus den Taschen geholt wurden, wie zunehmend sicherer gelesen und gesprochen wurde - das führte Menschen zueinander, die sich vorher kaum gekannt hatten.

Südwest Presse

Boris Langendorf in: Buchreport, Januar 1986

Ihr fünfjähriges Bestehen feiert am Samstag dieser Woche die Hamburger Autoren-Initiative "Literaturpost", inzwischen etablierte Anlaufstelle der Schreibbewegung, die auch schon einige professionelle Autoren hervorgebracht hat. Waren die Initiatoren anfangs froh über jeden, der überhaupt mit Texten nach außen ging, so werden jetzt die qualitativen Ansprüche bewußt heraufgesetzt. Literatur und den Umgang mit Sprache als etwas Selbstverständliches anzusehen, die Schwellenangst davor zu überwinden - das nennt Frederike Frei als grundlegende Idee der Initiative "Literaturpost", die sie vor nunmehr fünf Jahren als Selbsthilfeinitiative für Schreibende in Hamburg gegründet hat. Anlaufstelle ist ein früheres Ladengeschäft in der Lindenallee, betrieben von einem eingetragenen Verein und gefördert von der Hamburger Kulturbehörde sowie Spenden der aktiven Mitglieder. Ein Umschlagplatz für Texte, Meinungen und Ideen. Allerdings wird die kommerzielle Verwertung der Texte nicht zur vorrangigen Zielsetzung erhoben: "Oft sind wir auch die letzte Station zur Verhinderung eines schlechten Buches, indem wir raten, Texte erst einmal anderen zu Gehör statt zwischen Buchdeckel zu bringen", eine Beschreibung, die stark an Verlagslektorate erinnert. Forderungen wie Finanzierung von öffentlichen Druck- und Satzstudios für Autoren, von Schreibsprechstunden mit Schriftstellern, Prosa- und Lyrikwerkstätten hat die Initiative verstanden, im Programm der Hamburger Regierungspartei SPD unterzubringen.

Buchreport

Mechthild Bausch in taz, 21.8.1992

[Der komplette Artikel ist online zu lesen - Anmerkung: Die 'Literaturpost' nannte sich zu Beginn 'Literaturpostamt'. Das 'Amt' aber mussten wir nach einem Brief der Bundespost und einer launigen Antwort von Rechtsanwalt Jipp streichen. 'Literaturpost' hießen wir weiterhin. Geändert haben wir später diesen Namen aus inhaltlichen Gründen in 'Literaturlabor'. Jetzt ging es uns weniger darum, dass geschrieben wird, als wie. Frederike Frei]

"Reißt uns die Typen einzeln aus der Schreibmaschine. Egal. Kein Wort bleibt ungesagt“, schrieben vier junge Hamburger Autoren unlängst an ihre Kultursenatorin Christina Weiss und forderten den Erhalt des Hamburger Literaturlabors. Wie vielen Anfang der 80er Jahre gegründeten Kulturinitiativen droht auch dieser Mischung aus Textwerkstatt, Leseforum und Servicebüro für Nachwuchsautoren heute das Ende: die ABM-Stellen werden gestrichen. Unterzeichnet wurde die Petition von prominenten Hamburger Kollegen wie dem Krimiautor Frank Göhre und dem Schriftsteller Hermann Peter Piwitt. Die Freunde von heute sind die Feinde von gestern, denn vor genau zehn Jahren, im Sommer 1982, kam es zu einem Eklat, der als "Dichterstreit" in die Annalen einging. Zum wiederholten Male fand in Hamburg das Autoren-Festival "Literatrubel" statt, ein aus Protest gegen die gediegene "Literaturmesse" ins Leben gerufenes Spektakel. Diesmal beteiligte sich auch der damals noch unter dem Namen "Literaturpost" formierte Haufen selbsternannter "Alltagsschreiber" am Programm. Auf den offiziellen Einladungen fanden empfindsame Berufsautoren ihren Namen plötzlich neben dem irgendeines Hitzlifutzlis abgedruckt, der dann auf dem Podium auch noch über das Arbeitsamt, sein WG-Frühstück oder die Männergruppe dichtete — und waren empört. (...) Triebkraft war die in Hamburg lebende Dichterin Frederike Frei, die, nachdem sie 1976 mit ihrem Bauchladen voller Gedichte auf der Frankfurter Buchmesse zum erstenmal Furore gemacht hatte, sich nun ganz der organisierten Breitenliteratur widmete. Ausgestattet mit einer überschäumenden poetischen Fantasie und Frechheit und besessen von der Idee, sich selbst und allen Menschen das Schreiben zu entdecken, bezog sie mit ihren Mitstreitern 1980 — die Miete wurde per Spendenaufruf vorfinanziert — ein altes Ladenlokal im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. (...) Heute arbeitet der Verein mit zwei ABM-Kräften und einem festen Kern von rund 20 ehrenamtlichen Mitarbeitern. Die Projektmittel aus dem Kulturhaushalt lagen 1992 bei 14.000 Mark. Geblieben vom Aktionismus der ersten Jahre ist unter anderem das regelmäßige "Textlektorat zum Kennenlernen", das nach wie vor für alles und jeden offen ist. Nicht zuletzt deshalb wird die Arbeit des Literaturlabors heute von vielen Seiten geschätzt. Sei es, weil man wie Frank Göhre die "Erstschreiber, die sich privat Ratschläge zu ihrem Manuskript erbitten", guten Gewissens ans Literaturlabor verweisen kann, oder weil, wie Hermann Peter Piwitt sagt, die potentiellen Nachwuchsautoren dort keine "Schwellenangst" vor einer Öffentlichkeit haben müssen. So hat das Büro auch einige Debütanten beim Weg zum ersten Buch unterstützt.

taz

Heidi Petermann in Journal für die Frau, Juli 1994

Sie leiten den Journal-Workshop: Sarah Kirsch und Frederike Frei. Hier hat sich ein Forum für schreibende Frauen etabliert, die faire Textkritik zu schätzen wissen. Wenn es ans Vermarkten geht, hat auch die Poesie ihre prosaischen Seiten. Lyrikerinnen - ganz unter sich - Arbeit und Inspiration.

Journal für die Frau

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