Abenteuerreise von A nach A

Ein längerer Prosatext.
Ein endgültiger Titel steht noch nicht fest.

Gesendet, noch vor der Veröffentlichung des Textes, wurde das Hörspiel dazu, im Saarländischen Rundfunk, mit Sophie Rois als Sprecherin.

Frederike Frei live

SR2

Exposé des Adressen-Textes

Die Icherzählerin Christine G., Künstlername Frederike Frei, wohnt in Hamburg-Altona in der Großen Brunnenstraße 96, 3. Stock links und schaut auf die Straße. Sie befindet sich in der Mitte des Lebens und glaubt sich schriftlich nur das Wörtchen ich. Zu Vischer besteht ein räumlich entferntes Verhältnis. Bald gegen Anfang des Berichts (zur Not kann man es Roman nennen), bricht sie den Kontakt ab, einer anderen Liebschaft wegen, die er begonnen hat. Sie wartet in ihrem Zimmer wie eine Spinne auf Vischer selbst, der sich für sie entscheiden soll. Er kommt erst am Ende des 'Romans', weil sie ihn einlädt. Die Gefühle schlagen hoch, und zwar die zu ihrer Adresse, obwohl ihr deren Wortlaut (Anklänge an Große Brust, Große Brunst) letztlich peinlich sind. Die Stellung der Zahlen in ihrer Hausnummer erinnert sie an eine Fellatio, bevor sie ihren Irrtum erkennt. Sie muss sich schon meilenweit von der Liebe entfernt haben...
Die Protagonistin plaudert aus dem Nähkästchen. Nähkästchen hat mit Nähe zu tun, und auch der Ariadnefaden weist auf das Urbild Straße. Die Begeisterung für die eigene Adresse, diese adrette Mätresse, ist der Affe, den oder der sie reitet und als Zeichen der Identität das Thema des Buches.
Die Adresse ist für sie die Utopie der Literatur. Diese hält denselben Kriterien stand. Der Besitz einer Adresse macht den Adressaten groß und unverwechselbar. Im übrigen besitzt jeder eine, denn jeder befindet sich im Fadenkreuz von Zeit und Raum. Von der RAF (fiktive Absender auf Bekennerschreiben) bis zum Teddybär (Adresse: Badezimmer, Gummmibaum, 1. Astgabel von unten) wird das Thema durchgespielt. Mit dem Größenwahn einer Straßenbesitzerin (im Adressenstempel) grenzt sie sich von allen Nachbarn ab (es fehlt nur noch ein Straßenschlüssel). Täglich werden die Fremden, die notwendigen Mitbesitzer der Straße, im Kopf bekämpft. Die Ichfigur interviewt ihre Freunde nach der persönlichen Bedeutung ihrer Straßennamen für sie, sowohl lautlich als auch inhaltlich; schlägt außerdem vor, Straßen nach Dingen zu benennen, statt nach Personen, weil sich Dinge leichter lieben lassen. Kinder und Erwachsene in ihren Kursen erleben, dass selbst erfundene Künstlernamen das eigene Ich genauer treffen. Fehlerhafte Schreibweisen ihrer Adresse auf ihrer Post - die von Vischer lässt sie zurückgehen - stürzen die Erzählerin in wunderliche Verzweiflung. Zahlen sind die Konkurrenz.
Aufgrund eines vom Institut für Zukunftsforschung falsch adressierten Briefumschlags spricht sie von sich als dem Großen Bruman. Der Große Bruman erkundet im Heimatmuseum die Geschichte der Großen Brunnenstraße vom Urwald an, dessen Bäume in Hamburg-Ottensen rauschten. Der Große Bruman erforscht auf seine eigene Art den Unterschied zwischen Weg und Straße, stöbert den historischen Großen Brunnen auf, möchte ihn wieder zum Sprudeln bringen und beginnt einen Briefwechsel darüber mit dem Einwohnermeldeamt.
Als Volkszählerin begegnet die Icherzählerin anderen Wohnungen und ihren Insassen. Durch ihre Geschichts- bzw. Geschichtenforschung stößt sie auf für sie bedrohliche Situationen, die ihre merkwürdigen Ängste vor dem Fatum ihres Straßennamens mehren. Das Massengrab der Obdachlosen aus dem Jahre 1813 liegt bei ihr genau um die Ecke. Es ist die Erdmannstraße. Und der Altonaer Brand, exakt hundert Jahre später, 1913, bringt sie dem Feuer näher, das sie immer mied. Ein Schock ist für sie die Nachricht, dass Brunnen und Brennen dieselbe Wurzel haben. Ein ganzes Kapitel widmet sich der Geschichte ihrer bisherigen Adressen, es geht um die Wechselwirkung zwischen Adresse und Werdeweg. Brunnen erinnert sie an die Lieder ihrer Kindheit, gleichzeitig wird sie getrieben von der Angst, dass das Kind (in ihr) in den Brunnen fallen soll. Märchenbuch, Bibel und Tageszeitung werden durchforstet nach Brunnen. Sie sucht und findet groteske Trostbotschaften. Vischer wohnt solo am Neuen Garten 16. Mit einer Flasche Christinenbrunnen erkennt sie seine andere Liebe als eine, die er sich nur zur Verstärkung gegen sie selbst geholt hat. Die Liebe zu Vischer entbrennt. Es geschieht das, was kein Leser für möglich hält. Sie zieht aus.

Altona

Auszug aus dem Adresse-Text

(...) Einer geschenkten Adresse guckt man nicht in die Fresse.
Irgendwie ist mir mein Straßenname aber auch unangenehm. Die meisten denken bei Brunnen wohl an den Quell, mir aber fällt dazu das Ratespiel Stein, Schere, Papier ein. Damit gehöre ich zu den heimtückischen Spielverderbern, die mit Daumen und Zeigefinger noch zusätzlich Brunnen bauen, um zwei Fliegen mit einer Klatsche zu erschlagen. Windige Typen sind das, die sich Brunnen ausgedacht haben. Brunnen verringert die Chancen für den Mitspieler um die Hälfte, weil beides, Stein u n d Schere hineinfallen und sich jeder, der das benutzt, unbeliebt macht.
Das Große verrät mich. Die Unbescheidenheit, das Unmaß, das Gernegroße meiner Person liegen klar auf der Hand. Ich, 160 cm hoch und dann Große Brunnenstraße? Soll die doch erstmal in einer Pfütze üben, bevor sie sich so aufmotzt. Ich muss mein Geständnis etwas deutlicher fassen: Mein Straßenname ist mir schriftlich ein Fest, doch mündlich eine Qual. In jedem Telefonbuch steht die Große Brunnenstraße da wie ein Monument, warmherzige Buchstaben, doppelt gemoppelte Wörter auf Papier, malerisch und bedeutend. Doch zwischen den Lippen mutiert das Ganze zum Glibber, zum Brei. Und der ist mir nicht nur unangenehm, sondern sogar furchtbar peinlich. Sobald ich aufgefordert werde, den Namen meiner Straße wem ins Gesicht zu sagen, wörtlich, mündlich, schäme ich mich für ihn und muss ihn im selben Moment mit leichter Zunge herausrücken, sonst verrate ich mich.
Das Bru! steht mir bevor. Ich muss die Lippen schon spitzen wie zum Kuss, noch bevor ich Stimme geben kann, und das jedwedem Wildfremden gegenüber, der es falsch auffassen könnte, womöglich persönlich nehmen. Ich versuche schon immer, es mit breiten Lippen zu sprechen, um mein gleichgültiges Alltagsgesicht beibehalten zu können, doch dann versteht man mich nicht, schaut mir jetzt erst recht auf den Mund und verfolgt mit Argusaugen die Geburt des Bru, das sich umso schwerfälliger über die Lippen wälzt.
Gleich zu Beginn dieser plumpe Labiallaut B, dazu das rollende, grollende r und dann noch der dumpfste aller Vokale, das u. Als gäbe ich für einen Moment die Sicht auf eine in mir brodelnde Brühe frei wie ein Vulkan den Blick in seine Lava. Ich kann nur froh sein, dass die n's anschließend das Ganze doppelt und dreifach verneinen, so dass man ganz erschöpft, aber befreit in die -straße einmünden und dafür endlich den Mund aufreißen darf, um ihn fest zuschnappen zu lassen am Satzende beim Punkt. Brunnen - das klingt nicht nach wasserheller Quelle, das klingt nach Loch, nach Stumpf und Sumpf. Da fällt etwas durch, das erinnert an Durchfall, hört sich an wie Plumpsklo, das steht in keinem guten Geruch.
Und manchmal werde ich sogar noch gebeten, meine Adresse laut und deutlich zu wiederholen. Eine Zumutung. Ich gebe letztlich lauthals mein Liebesverhältnis preis. Denn das Wort Adresse entsteht durch Kontraktion von adrette Mätresse. Große Brunnen klingt wie Große Brust, Brunft, Brut oder Große Busen oder Großmutterbrust, mit einem Wort, es klingt wie Große Brunst. Jeder weiß: Die hat große Brunst. Nackt wie ein Lycheeleib steh ich da, was für ein Früchtchen. Man kann mir augenblicklich in meine schmalen Male schauen, meine hautweichen Öffnungen, meine offengelassenen Augen und Ohren. An mir soll man sich laben, heißt das, von mir soll man trinken. Bei der kann man sich bedienen, die will geleert sein bis auf den Grund. Sobald ich Brunnen sage, fließe ich aus allen Poren, laufe aus, vergehe wie das blutflüssige Weib, die schwarze Maria. Großmutter, warum hast du so große Brunnen? Damit ich dich besser schlürfen kann, dich wegschwemmen, hinunterziehen auf den Brunnengrund, huhu, du Norne, Nurne, Urne... Da schlammt's und schnakt's, da walkt's und schmoddert's. Unkenkalt da unten, das Wasser steht, steht auf der Stelle, auch du stehst auf der Stelle, trittst auf der Stelle, du stinkst, du Zisterne, du Zasterdirne, du LiteratHure, Himmel, ich liefere mich doch restlos aus!
Alle tun so, als sei es nur eine Formalität, die Adresse zu nennen, dabei hören sie mit beiden Nüstern zu, tun sich gütlich an den Worten, schlürfen ihren schlüpfrigen Sinn und kochen ihr Süppchen drauf.
"Ihre Adresse bitte", wirft mir der Mann im Einwohnermeldeamt hin, guckt mich an über seinen Brillenbügel und zieht die Lippen zusammen wie einen Häkelbeutel. Ich mach den Mund auf und steh da im Hemd. Und er weidet sich dran mit roten Ohren, durch die die Sonne scheint.
Auch meine Hausnummer lässt tief blicken, sobald ich sie hersagen soll.
Weil er mir sein Manuskript vorbeibringen will, erkundigt sich einer, wo ich wohne. Als ich mich schon auf dem Fahrrad davonschwinge, fällt ihm noch die Frage nach meiner Hausnummer ein. "Sechsundneunzig!", rufe ich über die Schulter zurück, laut durch die stockdunkle Nacht, weil ich schon weit gekommen bin und immer weiterkomme. Ich gewinne Abstand in jeder Beziehung. Man kann mich also dabei erwischen, wie ich nachts lauthals eine Zahl durch die Straßen rufe. So locker, ja geradezu lose habe ich mir die 96 noch nie angehört. Ich bin mir sogar im Moment nicht ganz sicher, ob es sich überhaupt um meine Hausnummer handelt und nicht um irgendein frivoles Angebot. Alleinstehend kenne ich sie gar nicht wieder. Sexundneunzig - meint das nicht das Zuckerschlecken eines ineinandergetriebenen Liebespaars? Ich werfe einem mir fernstehenden Herrn diese eindeutliche Zahl an den Kopf. Wie wird er sie auffassen? Fühlt er sich zweideutlich eingeladen? Kommt morgen schon vorbei? Mich reut diese 96 in der Schwärze der Nacht. Eine Kennziffer, eine Kennenlernzahl, Kennnummer, Erkennungsnummer, als sei ich ein bürokratischer Vorgang im Sinne von Briefkürzeln Meine Zeichen / Ihre Zeichen. Ich hätte zurückrufen sollen: "Und Ihre Zeichen? Machen Sie den Mund auf! Los, raus mit der Sprache: Ihre Zeiiichen?!" Und von weit hinten aus der Ferne hätte man einen Fußgänger mit dünner Stimme vielleicht rufen hören: "frb/dan/hi!" - so unverständlich wie alle diese Abkürzungen.
Zu Hause entdecke ich meinen Irrtum und bin noch blamierter, wenn auch nur vor mir selbst. Wie kann ich die 96 für eine Fellatio mit Cunnilingus halten? Kopfüber, kopfunter, doch Rücken an Rücken - wie soll das gehen? Ich muss mich schon meilenweit von der Liebe entfernt haben. Ich erinnere ja nicht einmal mehr, wann ich zuletzt an Vischers Engelhaken hing. (...)

PDF Download

up