Roman (Arbeitstitel).
Exposé der "Wörterfrau":
Es ist eine schelmenromantische
Autobiografie, die untersucht, welchen Einfluss
Buchstaben, Wörter und Sätze auf mein
Leben haben. Erfahrungen mit der Liebe sind so
z.B. Erfahrungen auch mit dem Wort Liebe.
Ich erzähle, dass und wie ich mein Leben
erzähle, und erzähle vom Leben anderer,
die ebenso Grund hätten, ihr Leben zu erzählen
(so wie jeder, der einmal nicht weiterwusste und
dann doch darüber hinwegkam).
Mit einer vergessenen Nebenfigur beginne ich,
frage mich, warum ich sie vergessen oder verdrängt
habe, was ca. schon 50 Seiten einnimmt, und will
mich langsam in einer Spirale über viele
andere Figuren den Hauptpersonen meines Lebens
nähern bis hin zu mir. In Nebensätzen
fließt genug von mir ein, so dass ich enden
kann, wenn ich von mir anfange. Der erste Satz
dazu wäre dann der Schlusssatz. Es geht mir
nicht darum, meine für andere ungewöhnliche
Biografie selbstverständlich zu erzählen,
sondern meine mir selbstverständliche Biografie
ungewöhnlicherweise nicht zu erzählen,
sozusagen den See durch seine Ufer zu beschreiben
oder den heißen Brei durch die Katze, die
drum herumschleicht.
Eine Vorfassung habe ich schon vor ein paar Jahren
geschrieben. Sie endet mit meinem letzten Auftritt
als Auftragsdichterin in N., der mir hoch bezahlt wurde vom Veranstalter,
so dass ich den Leuten in der Fußgängerzone
zurief: "Ich dichte umsonst!" Das war
der Schlusssatz. Hauptsächlich betrifft es
die Jahre, in denen ich mich als Bauchladenlyrikerin,
Literaturpostlerin, LiteratHure, Veranstalterin
des Festivals zum Tod, selbsternannte Bundesdichterin von eigenen Gnaden etc. bekannt machte, mein Leben
im Freien verbrachte (Deutschland West, auch Ost,
Teile Europas, documenta 6-8 Kassel, Buchmessen
Frankfurt 1976-90 mit Unterbrechungen, Luna-Luna-Park Hamburg, Literatrubel usw.).
Ein kleiner Teil dessen, was unseren Planeten
wie ein Saturnring an Wortschrott umgibt, soll
auch verwertet werden. (Etliche Presseordner über
mich will ich ausschlachten.) Die Entwicklung
läuft von der Kommunikationsnudel zur EinbisZweisiedlerin
oder vom Frosch zur Prinzessin, immer im Zwiegelächter
mit dem Leser. Wenn Ethnologen auswandern, um
die Quellen der Menschheit und einen ihnen fremden
Erdteil wissenschaftlich zu erobern, indem sie
sich z.B. wie Nigel Barley den Schwarzen in Ostkamerun andienen,
so gelingt mir dasselbe, indem ich vor die Tür
trete und mich auf Leser & Schreiber deutscher
Sprache einlasse. Im Anhang sollten dann die aufgetragenen
Sprüche, Gedichte und Prosastücke aufgeführt
sein. |
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Anfang "Wörterfrau"
Vorwort
Jäger- und Sammlerin bin ich.
Fröschköniggoldene Gröschelchen
stibitzte ich aus Muttis Portemonnaie. Gut Freund
waren sie mit den Eismöpsen im Büdchen,
die schon an der Trennscheibe Schlange standen
und nach meinen verschwitzten Fäusten jieperten.
Auch hinter Glasklickern war ich her, diesen Zauberkugeln,
tief in Hannos Hosentasche vergraben, die man
ihm abluchsen musste, um groß dazustehen,
oder ihm sogar wegnehmen, wenn er geschummelt
hatte, wobei man ihm beim Ringkampf zwischen die
Beine langte. Zwar fühlte man da weiche Sachen,
blieb aber trotzdem dran, um zu gewinnen. Später
bunkerte ich tausend bunte Buchstaben, Silben
und Wörter, um sie auf Papier zu zerpflücken
und neu anzustücken, sammelte Sätze
wie glühende Kohlen auf mein Haupt,
und heute horte ich Silberbarren auf der Konsole,
diese immer frostigen Brocken, sogar in der größten
Hitze kalt wie der Königssee bei Sonne. Ich
besitze zwar erst einen, dennoch sammele ich sie.
Und nun sammele ich mich.
Ich war am Anfang, ich, das Wort.
Bloß welches.
Ich? So bedeutend bin ich nicht. Und passt besser zu mir. Und drängelt sich überall
dazwischen, ein Dreibuchstabenkurz, u ein
Tal, n ein Berg und d ein Kopf mit
Antenne. Undundundundund - das bin immer wieder
ich, klein, gemein und überall dabei. Ohne
mich kommt nichts voran. Wen ich schon verkuppelte.
Jeder Einsiedler wird durch mich zum Zweisiedler.
Ich bin Kitt zwischen den Leuten. Aber sobald
ich mich ausbreiten will, werde ich abgekürzt.
Mach mal 'n Punkt.. Sie halten mich kurz &
klein, ersetzen mich durch Warenzeichen. Aber
ich hole mir dennoch, was ich kriegen kann.
Und dann, und dann, und dann...!
So erzählen, rasant zur schriftlichen Hochform
auflaufen wie bei einem Streit, wo einem die Argumente
als gesottene Tauben aus dem Maul fliegen. Ich
liebe den Haufen, die Horde, das Horten, die bunten
Summen. Immer hab ich Lust auf alles. Nie fall
ich tief, und fall ich tief, bin ich froh, die
Welt von unten zu sehn. Nicht für fünf
Pfennige hab ich Lust, aufzuhören, mit was
auch immer. Wort an Wort und hält doch. Die
unds führen ans Ende der Welt und wahrscheinlich
noch darüber hinaus.
Ein Trumm von Buch schwebt mir vor, in das ich
meine bundesdeutschen Dichterlebnisse hineinschreibe.
Tief wie ein Tal, hoch wie ein Berg und rund wie
eine Welt am Stiel. Darf es etwas kleiner sein? Die Literatur ist ein Schrank, sagt Daniil
Charms. Niemand staunt bei Schränken über
ihre Wucht, tritt sogar unwillkürlich ein
paar Schritte zurück auf der Treppe im Hausflur,
wenn ihm Möbelträger mit diesem Getüm
von oben herab entgegenschaukeln.
Im Miniformat gibt es dies Traumbuch bereits,
immer noch wackersteinschwer und hünenhaft
groß.
Kartoniertes Linnen mit eingearbeiteter Halteschlaufe.
Ich spreche von Tapetenbüchern.
Vor jeder neuen Herbstkollektion streunen diese
Bildmusterbände vor Fachhandlungen und größeren
Drogerien auf dem Bürgersteig herum und warten
auf ihren Abtransport durch die Orangendrops
vom Sperrmüll. Diese bestens gebundenen Bücher
gibt es völlig umsonst. Wer die Buchpreise
kennt, kann nur staunen. Ein Griff, und sie begleiten
wen als schwerer Koffer heim. Schon in der S-Bahn
schlage ich das neuerstandene Exemplar auf, was
nicht ohne Nasenstüber für meine Sitznachbarn
abgeht, und träume mich in seine Räume.
Mein Sitznachbar nimmt Reißaus, während
ich selig eine Wunderwand nach der anderen aufblättere.
Trübselig gesteh ich mir dabei ein, dass
ich zu Hause wieder nicht die Tapeten wechselte.
Doch nun sind die kostbaren Muster rosigroter
Rüschenblüten oder graszarter Biedermeierbiesen
nicht mehr lieferbar, vergriffen. Ein ganzes Jahr
lang lauerten sie auf einen Tapetenwechsel, die
Schlafzimmerwandrevolte, aber haben ausgedient.
Zu Hause wuchte ich es drei Treppen hoch, packe
es auf den Schreibtisch und habe binnen weniger
Minuten Ordnung geschaffen. Sämtliche frei
herumfliegenden Blätter inner- und außerhalb
von Schubladen, Rollschränken und Bettkästen
finden hier ihre Heimat. Gehortete Gedichte, verkramte
Tagebuchzettelgeschichten klebe ich über
Dutzende von Seiten hinweg in die Folianten ein.
Oder ich schreibe die Sprüche direkt auf
die glänzend glatten oder rauhen Faser-,
Präge- und Vinyltapetenmusterseiten, habe
damit im Nu ein ganzes Buch vollgeschrieben, die
Texte aufs Tapet gebracht, bereits fertig illustriert.
Natürlich dürfen die Prachtbände
nicht in Kellerregalen verrotten. Bei jeder guten
Gelegenheit, die man schafft, indem man beginnt,
hieve ich sie ins Freie und stelle sie auf Gartenzaunpfählen,
Eisengeländer, Feuermelder und vor allem
Telefonverteilerkästen ab oder aus oder natürlichen
Stehpulten sonstiger Art. Mit majestätisch
ausgebreiteten Armen beginne ich, daraus vorzulesen
in der Sonne. Einer bleibt erst stehn, dann mehrere,
ein Publikum findet sich immer, sobald wer beschließt,
drinnen mit draußen zu tauschen. Man muss
das Buch allerdings zufällig dabei- und nicht
daheim als Türstopper liegen gelassen haben,
sonst kann keine Spontanlesung stattfinden.
Mein Lieblingspult steht vorm
alten Kuppelgebäude der Hamburger Universität.
Es findet sich dort eine angeschrägte Steinschreibfläche
ungefähr in Hüfthöhe eingelassen
in ein freistehendes hohes Seitenportal, von Büschen
umstanden in einer Art Hainrest. Tagsüber
kann man mich hier schreiben und sinnen sehn,
nahes Buschwerk und ferne Patrizierhäuser
gleichzeitig im Blick, die Iris auf unendlich
gestellt. Das Lesen kippt ins Schreiben um wie
das Ausatmen ins Einatmen. Wenn kein anderes Papier
in meinen Taschen oder Mantelsäumen aufzutreiben
ist, sogar mein Notizbuch fehlt, weil es keinen
Griff besitzt, mit dem man es in letzter Minute
auf dem Hetzweg zur S-Bahn an sich reißen
und mitschleifen könnte, bekritzele ich die
Rückseite eines S-Bahnfahrscheins. Zu Hause
wird der dann ins Tapetenbuch eingeklebt zwischen
erhabene weinrot rankende Schwertlilien.
Auch bei Mondlicht kann man mich hier vorlesen
hören. Komme ich zu Fuß auf dem Heimweg
vom Literaturhaus an der Alster in meine Eineinhalbzimmerwohnung-für-mich-allein
in Altona an diesem Pult vorbei, bin ich magisch
angezogen vom Lichtkegel der hohen Bogenlampe
darüber. Hamburgs breiteste Verkehrsstraße
führt vorüber. Ich liebe dies rauschige
Plätzchen. Es ist geradezu geschützt
durch Lärm. Ein negatives Wattepolster für
Dezibel-gesättigte Ohren, eine Art Schallmauer
im wahrsten Sinne des Wortes gegen jede tröpfelnde
Stille, die auf die Nerven geht, weil sie ahnen
lässt, dass doch wieder wer sie gleich unterbricht.
Schau ich hinüber zum Gestade hochaufgeschütteter
Bahnböschung, hinter der sich sämtliche
Hamburger U-, S- und DB-Bahnlinien verbergen,
fühle ich mich frei, fern und allein wie
Iphigenie auf ihrer Insel, und gegen meine Seufzer
bringt die grüne Ampelwelle nur dumpfe Töne
brausend mir herüber. Ein geheimer literarischer
Ort. Auch nachts finden sich Zuhörer von
Texten aus Wälzern (oder Einkaufszetteln
als Alternative) ein, weil die stark strahlende
Lampe zur Lesung lädt. Gerade hier, wo der
großspurige Millionenstadtstaatsverkehr
jeden Stimmlaut erstickt, sind Passanten besonders
bereit, ihre Ohren weit aufzusperren, um doch
noch gegen jede Erwartung ein menschliches Wort
der akustischen Müllmasse abzuluchsen. Die
Silben ergänzen sie dann selbst mit einer
Fülle eigener Gedanken, wozu ihnen meine
ganzen Sätze sicher nicht verholfen hätten.
Haarscharf zielen die Autos am Fahrbahnrand an
uns vorbei wie die Geschosse eines Messerwerfers.
Keiner der Insassen darin nimmt uns wahr. Für
Spätheimkehrer auf der Flucht wirken Fahrbahnränder
und Gehsteige leer.
Genau an dieser Stelle müssen die PKW's und
Laster, Straßenbahnen und Mopeds eines Sonnabends
alle zwangsläufig stehenbleiben. In Scharen
schlagen wir Studenten ausgerechnet hier auf dieser
sechsspurigen Trasse unser Lager auf, kurz vor
dem Eintreffen einer Hundertschaft Gummiknüppel.
Jahrzehnte später wär ich wieder bereit,
meinen Fuß wie damals auf die Fahrbahn zu
setzen, bloß wo sind die anderen. Gegen
die Erhöhung der Straßenbahnpreise
und die Verschlechterung der Haftbedingungen Hasenhöhe
26 würde ich immer noch oder wieder demonstrieren,
aber nicht so gern mit den Neuen von heute, lieber
mit den Alten von damals, mit denen man sich bei
Thermoskanne und Wärmflasche darüber
unterhalten könnte, wie seither das Leben
so spielte oder wem es mitspielte. Uns verbindet
doch immer noch dasselbe Aha-Erlebnis, eine Art
staatliches Coming-, eher Running-Out: Von allen
Seiten kamen Polizisten auf dem Bürgersteig
an einer Straßenecke langsam eingetrudelt,
vertraten sich die Füße, standen zusammen
wie verabredet. Wir schauten hinüber, die
herüber. In Höhe der Rabatten lief plötzlich
der ganze Pulk los, wie auf ein geheimes Zeichen.
"Eine Hundertschaft!", flüsterte
mir wer zu, bevor alles ab in die Büsche
stob. Vielleicht hatten sie ja untereinander abgezählt
und die ganze Zeit darauf gelauert, dass der hunderste
Mann endlich zu Fuß eintraf. Auf wen rannten
sie zu wie vom Affen gebissen? Auf uns! Die wir
nie viel zu melden hatten bei Erwachsenen. Bei
Staatsempfängen oder feierlichen Anlässen
übersahen uns doch die Polizisten. Die urplötzliche
Losraserei, dieser kolossale Aufbruch hatte etwas
Märchenhaftes. Wie wenn zwischen zwei Wimpernschlägen
nach hundert Jahren die Ohrfeige fällt.
Geadelt wird dies Plätzchen vorm alten Uni-Hauptgebäude
an der Edmund-Siemers-Allee noch durch ein ganz
anderes Ereignis. Als heimliche Gedichteschreiberin
hab ich hier die angebetete Dichtergöttin
nach ihrer Hamburger Lesung aus Malina mit brennenden
Augen am Arm zweier belesener Herren auf ihrem
Gleitflug zur Limousine verfolgt. In Sekundenschnelle
hatte das Taxi sie über die gepflasterte
Ausfahrt genau in Höhe meines Schreibpults
in den Verkehrsfluss entführt. Ich aber werde
dies tête-a-tête mit ihr noch kapitelweise
auswalzen. Die Schiebewurst spar ich mir für
später auf.
"Warum schreiben Sie so
gern?", fragen mich Schüler einer fünften
Klasse, die zu Gast sind in dem von mir nach meinen
Kasseler Tagen in Hamburg gegründeten und
später wieder von mir selbst zugrunde gerichteten
Literaturlabor. Auf diese Frage kann ich ein As
aus dem Ärmel ziehen: "Weil ich's kann."
Für misstrauische Zuhörer setze ich
noch hinzu: "Wie Abwaschen, das gelingt mir
auch." Doch wenn Kinder fragen, stimmt eine
Antwort erst, wenn man sie vorher noch nicht wusste.
Die Gelegenheit ist also günstig, mir selbst
auf die Schliche zu kommen.
"Ich schicke Wörter gern auf die Reise,
wie Hänschenkleins, lauter Gernegrößen."
Warum Wörter, warum nicht Farben oder Noten.
"Wie sehen Wörter denn aus?" frage
ich die Kinder in meiner Not, weil ich noch nicht
zufrieden bin mit meiner Antwort.
"Wie Schlangen."
Ich eine Schlangenbeschwörerin? Luftschlangenbeschwörerin!
Ist alle Tage Silvester? Ich fahnde weiter.
"Würmer!", kräht ein Junge.
Sofort sehe ich mich als Gevatterin mit Massen
an mampfenden Maden im Schlepp, die sich die Welt
einverleiben, um sie aufzulösen.
"Weiß jemand noch ein Bild?"
Allmählich wird deutlich, dass ich keine
Antwort habe. Die Pädagogik ist in Gefahr.
Die Lehrerin überlegt auch schon. Es muss
noch etwas geben, das passt. Mir fallen nur Perlen
an einer Schnur ein. Schreiben als Rosenkranz,
als Litanei? Durchaus, aber das reißt mich
nicht vom Hocker.
Da macht das kleine Mädchen mit den braunen
Korkenzieherlocken genau vor meiner Nase den Mund
auf und murmelt rauh:
"Wie Raupen."
Ich könnt sie umarmen. Raupen sind unterwegs
von einer Welt zur anderen. Ich sehe sie krauchen
über Zettel, Hefte und Buchseiten in Buchstabensegmenten,
leibliche Geschlängel mit seidigweichen Widerhaken,
und in den Köpfen der Leser verwandeln sie
sich in die Schmetterlinge geflügelt bunter
Bilder. Endlich weiß ich, was mich von kleinauf
hinreißt.
Die meisten Wörterraupen entdeckte ich im
Buch auf dem Nachttisch meiner Mutter, das nur
draußen auf dem Umschlag ein Bild zeigte,
obwohl ich es ganz durchblätterte.
Im Buch war von einem Kind die Rede. Das war ich,
endlich! In Büchern wie Gisel und Ursel oder Trotzköpfchen ging es um Gisel
und Ursel und um Trotzköpfchen, und ich war
neidisch, dass sie so im Mittelpunkt standen,
gönnte es ihnen nicht, drum las ich nicht
weiter. Aber hier spielte kein Bär, kein
Frosch, kein Engel und auch kein bestimmtes Mädchen
mit einem Namen die Hauptrolle, sondern ein Kind,
so viel verstand ich. Ein Kind? Das war ich. Wie
wichtig ich war! Wunderbar. Wenn von mir die Rede
ist, halte ich das stundenlang durch. |
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